Kurzgeschichten aus der Parabelecke: „Hoffnung“

Nacht. Grelle Ampeln und Straßenlichter durchfluten andauernd fast jeden Winkel der fahlen Betonwüste, die sie Stadt nennen, mit ihrem gleißenden Licht, so scheint es niemals Nacht zu sein. Irgendwann steigt langsam von Osten her ein klein wenig Helligkeit am Himmel auf. Die Lichter verblassen mit der Zeit, verschwinden ganz.

Morgendämmerung. Über der Stadt hängt ein fahles, kränklich weißes Licht, das sie Sonne nennen. Durch die schmutzig graue Wolkendecke ist sie kaum zu erkennen.

Die Stadt erwacht. Fast wie auf Kommando füllen sich die Straßen, der Lärm schwillt an, man erkennt, es beginnt ein neuer Tag in der Stadt.

Doch in einer kleinen Seitengasse, da ist es noch dunkle Nacht. Die kleine Sonne, so hoch sie auch steigt, vermag die dunklen, hohen, kalten Mauern nicht zu erhellen, nicht zu erwärmen. Alte Kartons, Kisten und anderer Müll, von der Gesellschaft weggeworfen.

Ein ruhiges Bild der Einöde. Doch plötzlich, einige Kisten, zusammengeschoben und gestapelt, bewegen sich. Etwas Graues, Undefinierbares kriecht heraus, steht auf, klopft sich den Schmutz von dem grauen, zerlumpten Mantel, wischt die sich das kleine Gesicht sauber so gut es geht, und holt eine kleine Spiegelscherbe heraus. Die Gestalt blickt hinein. Ein kleines Mädchen ist darin zu sehen, mit langen, zerzausten, dunklen Haaren, großen dunkle Augen, eine süße kleine Stupsnase. Sie macht sich ihr Haar zurecht, steckt den Spiegel wieder ein, streckt sich und gähnt herzhaft, bevor sie sich wieder auf den Weg macht.

Sie geht, wie jeden Morgen, zum Bahnhof, der in der Nähe ist, dessen Bahnen immer in der Nacht vorbei fahren und die kleinen Tiere verschrecken, die nachts bei ihr immer Schutz suchen. Sie erreicht den Bahnhof, setzt sich an den Rand der Wartehalle, stellt einen Becher vor sich hin und versucht möglichst mitleidig auszusehen, was ihr nicht schwer fällt, denn schließlich hat sie schon Übung.

Eine Flut von Menschen durchströmt den riesigen Raum, drängen sich aneinander vorbei, beachten sie kaum, versuchen sie zu ignorieren, manche erleichtern ihr Gewissen, stecken ihr ein paar Groschen zu. Die Zeit verrinnt, in ihren Gedanken:

Ich bin allein auf dieser Welt

Niemand der mich in seinen Armen hält,

Niemand der mich beschützt und liebt.

Ich glaub´ auch nicht, dass es so jemanden gibt

Kalte Herzen, Zum Stürmen verpflichtet

Mit starren Blick nach vorn gerichtet

Haben alles zum Leben

Nicht bereit was davon abzugeben

So sitze ich nun, habe viel Zeit

Denn Zeit ist alles was mir noch bleibt

Warte darauf, dass ihr etwas spendet

und nicht nur verlegen den Blick abwendet.“

Es wird Mittag, die Sonne hat ihren höchsten Punkt erreicht, doch es ist immer noch kalt. Sie sucht die Almosen des heutigen Tages zusammen, steht auf, den Blick gesenkt, trübe Gedanken umspülen ihren Geist, fragen nach einem Sinn, schreien nach einem Bruch dieser ewigen, kalten Routine, klagen über die Verluste der Vergangenheit. Doch werden diese Gedanken verdrängt, von etwas viel Drängenderem, dem Mächtigen Knurren ihres Magens.

Die Bäckerei gegenüber dem Bahnhof. Der Laden wird geführt von einer gutmütigen alten Frau. Sie schüttelt wie immer traurig den Kopf, als ein schmutziges kleines Mädchen die Bäckerei betritt. Sie will ihr wie immer ein paar Brötchen umsonst zustecken, doch wie immer, erhält sie ein stummes Kopfschütteln, das Geld liegt auf der Theke, während schnelle Schritte das kleine Mädchen mit den Brötchen hinaustragen. Die Bäckerin schüttelt traurig den Kopf, seufzt und legt das Geld in die Kasse.

Ein paar Schritte nur, um die nächste Ecke. Schnell und hastig, verschluckt sich, muss husten. Doch schnell, schneller, bevor sie wieder kommen.

Sie hört Gelächter, lautes Rufen, den Namen, den sie ihr gegeben haben. Da sind sie wieder, wie immer.

Traurig lässt sie alles über sich ergehen. Den Spott und Hohn, das Gelächter, herumgeschubst, das letzte Brötchen weggenommen.

Die Bande, wie sich gern nennen. Vier Jungs. Doppelt so alt und doppelt so groß wie sie. Irgendwann lassen sie von ihr ab. Macht keinen Spaß, wenn sie sich nicht wehrt. Nehmen ihr noch die Pudelmütze weg. Keine Reaktion? Nein.

Laufen weg, werfen die Mütze ein paar Mal zwischen sich hin und her, schließlich landet sie in einer Mülltonne.

Bis Morgen dann, Stummelnase!“

Das ist ihr Name, der Einzige, den sie noch hat. Doch…waren sie nicht die Ersten, die ihr einen Namen gegeben haben.

Ihre Gedanken reisen zurück durch die Zeit. Unendlich weit. Bis zu einer Welt außerhalb dieses Universums. Eine Welt voller Wärme, Leben, Licht und Farben. Ein bunte Welt. Eine gesunde Welt. Eine sichere. Eine vergangene.

Früher Nachmittag. Sie durchstreift die Straßen, macht sich lustig über all jene, die versuchen sie zu übersehen, betreten den Blick abwenden, die Nase rümpfen. Doch ihr Lachen klingt hohl in den Ohren, irgendwie falsch. Erinnert sich daran, wie sie früher gelacht hat, fröhlich von ganzem Herzen, ohne Sorgen, Nöte und Ängste. Das Schmunzeln erstarrt, wandelt sich in eine Grimasse des Schmerzes und der Einsamkeit.

Ja, sie ist einsam. Aber das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da waren sie noch da, hatten sie beschützt vor all dem. Gaben ihr Wärme, Sicherheit und Liebe. Dinge der Vergangenheit. Eine Welt in die sie sich manchmal zurückzieht, wie man sich unter der warmen Decke verkriecht, wenn es draußen schrecklich kalt ist.

Abend. Den Weg nach Hause findend. Zu Hause? Der Ort, die kleine Gasse, dunkel und kalt, wie ihr Leben. Die Laternen erwachen, das Leben auf den Straßen erlischt langsam. Die grellen Lichter durchfluten wieder die Stadt, doch hier ist es, wie immer, dunkel. Sie schiebt wieder die Kisten vor sich, wie jeden Abend, rollt sich in ihrem kleinen Haus zusammen, versucht zu schlafen, versucht zu träumen, versucht zu hoffen. Und dann schläft sie ein in der Gewissheit, dass der Morgen wiederkehren wird.

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